Heilsame Paradoxien.

Von Michael Titze


Der Ausdruck paradox bedeutet, dass etwas Unerwartetes, Konträres oder Widersinniges zur üblichen Ansschauung gemeint ist. Eine Paradoxie lässt sich als ein Widerspruch definieren, der sich ergibt, wenn unterschiedliche Abstraktionsebenen (Bezugssysteme) vermischt («bisoziiert») werden.(1).


In der philosophischen Tradition des Zen-Buddhismus werden paradoxe Aussagen systematisch verwendet, um jenen Zustand des «Nichtbewusstseins» zu erreichen, der von den Regel-Zwängen des Normalitätsprinzips befreit. Dieses «Verrücken» wird in folgendem Zen-Gedicht veranschaulicht:

Wenn ich denke,

dass ich nicht mehr an dich denke,

denke ich immer noch an dich.

So will ich versuchen,

nicht zu denken,

dass ich nicht mehr an dich denke.

 

Auch Christian Morgenstern hat es meisterhaft verstanden, Paradoxien in Worte zu fassen (und dadurch beim Leser ein «komisches Gefühl» hervorzurufen). Er erreichte dies dadurch, dass er sich in seinen Gedichten an keinerlei «Man muss»-Regeln hält:

KM 21

Ein Rabe sass auf einem Meilenstein

und rief Ka-em-zwei-ein, Ka-em-zwei-ein...

Der Werhund lief vorbei, im Maul ein Bein,

der Rabe rief Ka-em-zwei-ein, zwei-ein.

Vorüber zottelte das Zapfenschwein,

der Rabe rief und rief Ka-em-zwei-ein.

«Er ist besessen!» - kam man überein.

Man führe ihn hinweg von diesem Stein!»

Zwei Hasen brachten ihn zum Kräuterdachs.

Sein Hirn war ganz verstört und weich wie Wachs.

Noch sterbend rief er (denn er starb dort) sein

Ka-em-zwei-ein, Ka-em-zwei-ein.

 

Zuweilen brach Morgenstern sogar alle semantischen Regeln:

Gruselett

Der Flügelflagel gaustert

durchs Wiruwaruwolz,

die rote Fingur plaustert

und grausig gutzt der Golz.

Damit wird deutlich, dass sich die «komische» Inkongruenzempfindung dann ergibt, wenn der normale «Lauf der Dinge» jäh unterbrochen wird. Diesen unerwarteten Bruch in einer logischen Verbindung bezeichnet man auch als non sequitur. Dies belegt das folgende Beispiel von Charney:

«Ich kenne einen alten Kerl aus Neuseeland, der keinen einzigen Zahn im Maul hat. Aber er spielt die Basstrommel besser als jeder, den ich bisher hörte.»

Woody Allens Nonsens-Humor basiert ebenfalls auf dem non sequitur-Prinzip. Hierzu zwei Beispiele:

«Was wäre, wenn alles nur eine Illusion wäre und nichts existierte? In diesem Fall hätte ich für meinen Teppich definitiv zu viel gezahlt!»

«'Benny! Benny!' Eine Mutter ruft nach ihrem Sohn. Benny ist sechzehn, aber schon vorbestraft. Mit sechsundzwanzig wird er auf den elektrischen Stuhl kommen. Mit sechsunddreissig wird man ihn hängen. Mit fünfzig wird er eine eigene Heissmangel besitzen.»

 

Non sequiturs finden sich häufig auch im Bereich der unfreiwilligen Komik.

Ein Beispiel ist das folgende Gedicht eines schizophrenen Dichters:

Herbstlaub

Der Winter naht.

Die Blätter fallen.

Tag für Tag, die Blumen welken.

Das Laub fällt ab, Tag und Nacht.

Der Herbst beginnt ein Lied zu lallen.

(Nach L. Navratil)

 

Ein weiteres Beispiel bietet Friederike Kempner (1836 - 1904), die unermüdlich eine eigenwillige Lyrik produzierte. Über Goethes Faust schrieb sie:

«Oh Faust, du Bild des Menschen,

Bald gross und klar, bald düster wild.

Wer dich gemalt, er war an Kunst ein Riese:

Gigantisch war der Stoff, und nett gelang das Bild!»

 

Und über den Astronomen Johannes Kepler dichtete sie:

«Du sahest herrliche Gesichte

In finstrer Nacht.

Ein ganzes Blatt der Weltgeschichte:

Du hast es vollgemacht.»

 

Devi S. Euler greift in der von ihr entwickelten «Lach & Chaos»-Methode systematisch auf paradoxe non sequiturs zurück. Die Teilnehmer ihrer Seminare bekommen die Aufgabe, «duale Bedeutungen» bestimmter Aussagen zu formulieren. Dabei ergeben sich widersprücliche Wertungen, wie zum Beispiel:

«Ich bin eifersüchtig, dadurch spüre ich mich mehr» (= positive Bedeutung)

«Ich bin eifersüchtig, dadurch leide ich mehr» (= negative Bedeutung)

 

Wenn diese Bedeutungen aus dem logischen Kausalzusammenhang herausgelöst werden, können sich folgende Aussagen ergeben:

1) Paradoxe Logik

«Ich bin eifersüchtig, damit ich mehr leiden kann.»

2) Paradoxe Analogie

«Ich bin eifersüchtig, weil Fussball spielen kein Auto ist.»

3) Doppelte Paradoxie

«Ein eifersüchtiger Fussball hat Ostern kein Fieber.»

4) Nonsens Paradoxien

«Wenn Fussball spielen Eifersucht ist, dann ist Liebe der Elfmeter.»

5) Double-bind Paradoxien jenseits der Dualität

(Die Antwort muss aus dem Hier und Jetzt spontan kommen, ohne nachzudenken)

«Ich bin eifersüchtig, weil ich mir dieses blaue Kleid gekauft habe, und das wiegt 12 Erbsen.»

 

Double Bind und pragmatische Paradoxien

Kommunikation findet nach Fry auf vier Ebenen statt:

1) Die intrapsychische Ebene: Gefühle, («stimmige») Stimmungen, Gedanken, Selbstbeurteilungen, «doppeltes Denken» (Ich denke über das nach, was andere über mich denken könnten ...);

2) Die dyadische interpersonale Ebene: starker Einbezug von 1);

3) Die interpersonale Ebene im Rahmen einer umschriebenen Gruppe: Berücksichtigung von «in group»-Regeln, moderater Einbezug von 1);

4) Die interpersonale Kommunikation im Sinne von Massenkommunikation unter anonymen Individuen: Berücksichtigung formaler «Man muss»-Regeln und Kommunikationsstile, Ausschluss von 1).

Der Austausch von Botschaften setzt voraus, dass die Kommunikationspartner über einen gemeinsamen Symbolvorrat verfügen, der regelhaft (semantisch, syntaktisch) strukturiert ist und festgelegten Relevanzkriterien folgt.

Auf allen Ebenen der Kommunikation vermischt sich interne mit externaler Kommunikation, nonverbale (implizite) mit verbaler (explizite). Gleichzeitig gibt es einen Inhaltsaspekt (Was wird kommuniziert?) und einen Beziehungsaspekt (Wie wird es kommuniziert?) Letztere bestimmt den ersteren und ist daher Metakommunikation: Kommunikation über Kommunikation (Watzalwick et al.).

Der Inhaltsaspekt vermittelt die «Daten«, der Beziehungsaspekt weist an, wie diese Daten aufzufassen sind. Der Inhaltsaspekt wird digital übermittelt, der Beziehungsaspekt ist dagegen vorwiegend analoger Natur.

Jedes Verhalten hat Mitteilungscharakter. Schon Schweigen drückt etwas aus. Man kann also nicht nicht kommunizieren.

Eine Double-bind Situation liegt vor, wenn eine Handlungsaufforderung gegeben wird, die befolgt werden muss, aber nicht befolgt werden darf, um befolgt zu werden: die Aussage des Inhalts- und des Beziehungsaspektes negieren einander. Die Bedeutung der Mitteilung ist somit unentscheidbar (Dilemma, Konflikt).

Beispiel: Eine Mutter fordert ihr Kind auf, sich liebkosen zu lassen, kündigt dem Kind mit ihrer Mimik jedoch an, dass sie Abscheu vor Liebkosungen empfindet. Grund sind rollenspezifische Man muss-Ideale: Eine Mutter ist nur dann eine gute Mutter, wenn sie Spass daran hat, ihr Kind zu liebkosen. Dies ist eine Sei spontan!-Paradoxie, die zu einem Zwang auf der Beziehungsebene führt, das zu negieren, was intrapsychisch authentisch ist und entsprechend auf der Inhaltsebene kommuniziert wird.

Ein weiteres Beispiel wäre die Furcht vor sozialer Exposition (Logophobie) bei gleichzeitigem Bemühen, sich locker und motiviert in eine entsprechende Situation einzubringen.

Ronald Laing hat in seinem Buch «Knoten» eine Fülle von paradoxen Double bind-Aussagen beschrieben. Hier ein Beispiel:

Sie liebt mich nicht.

Ich fühle mich schlecht.

Ich fühle mich schlecht, weil sie mich nicht liebt.

Ich bin schlecht, weil ich mich schlecht fühle.

Ich fühle mich schlecht, weil ich schlecht bin.

Ich bin schlecht, weil sie mich nicht liebt.

Sie liebt mich nicht, weil ich schlecht bin.

Die Auflösung solcher Paradoxien ist dann unmöglich, wenn a) die Ablehnung des rollenspezifischen Man muss-Zwanges als Bosheit ausgelegt wird, b) Metakommunikation über den entdeckten Widerspruch als Unverschämtheit angesehen wird, c) «zwanglose» Verhaltensalternativen bestraft werden (Beziehungsfalle).

 

Paradoxe Interventionen in der Psychotherapie

«Tue genau das Gegenteil von dem, was ein (normaler) Therapeut tun würde» (Weeks & L'Abate). Der paradoxen Therapie liegt das Prinzip zugrunde, dass ein Mensch sich dadurch ändern solle, dass er unverändert bleibt. Dies wird als «Symptomverschreibung» bezeichnet: Der Klient wird ermutigt, sein Verhalten, das im Bezugsrahmen des Normalitätsprinzips als falsch, unangemessen oder krankhaft beurteilt wird, nicht nur zu akzeptieren, sondern nach Möglichkeit zu verstärken.

Dadurch entsteht eine neue Art von Doppelbindung. Während eine pathogene Doppelbindung einen Menschen in eine aussichtslose Lage manövriert, zwingt eine therapeutische Doppelbindung einen Klienten in eine verlustlose Situation, die nicht von Schamangst geprägt ist, sondern im Gegenteil von jenen Gefühlsqualitäten, die für die Humorreaktion typisch sind. In einer therapeutischen Doppelbindung gewinnt ein Klient die Kontrolle über sein Symptom entweder durch Aufgabe des Symptoms (Nichtbeachtung der Anweisung) oder durch absichtliche oder willentliche Produktion des Verhaltens. Im letzteren Fall lässt sich der Klient nicht mehr vom Symptom unter Kontrolle halten, sondern kontrolliert jetzt seinerseits das Symptomverhalten. Diese Art der Bindung oder paradoxen Situation manövriert den Klienten aus seinem pathologischen Bezugsrahmen hinaus.

 

Die clowneske Reduktion

Die Grundidee therapeutischen Humors lässt sich so formulieren: Wenn sich ein Mensch allzu forciert bemüht, sich an die «Man muss»- Ideale des Normalitätsprinzips anzupassen, folgt er dem «Mehr desselben» - Prinzip. Er will damit vernünftiger, eloquenter, erfolgreicher, schlagfertiger, lockerer usw. sein, als es ihm aufgrund seiner natürlichen Voraussetzungen, seiner «Tagesform» usw. möglich ist. Er setzt sich damit die Messlatte beim Hochsprung (um diese Metapher zu gebrauchen) so hoch, dass er unweigerlich «reissen» muss! Damit gerät er bei jedem neuerlichen Versuch, über diese Latte zu springen, in eine Hochspannung, die seine natürlichen Möglichkeiten lähmt. Um diesen paradoxen Zustand aufzulösen bedarf es einer umfassenden Reduktion, die dem «Weniger desselben» - Prinzip folgt. Der betreffende Mensch soll sich demnach bewusst dazu anhalten, in jeder Hinsicht weniger gut sein zu wollen. Dies wird am leichtesten dadurch möglich, dass man sich das unvollkommene «Kind in sich«(2) zum Vorbild macht, das - aus der Perspektive des sekundären Bezugssystems - vieles «falsch macht» und dennoch «bedenkenlos» Spass am Leben hat. (Tiefenpsychologisch gesehen, bedeutet dies, sich auf eine «Regression» einzulassen). Die Reduktion auf das primäre Bezugssystem bezieht sich vor allem auf folgende Bereiche:

Logik: Möglichst viele logische Fehler machen! Dies impliziert, dass man sich (wieder) die prälogische Denkweise eines kleinen Kindes zu eigen macht.

Dieses Denken ist konkret und anschaulich: («Die Wolken gehen sehr langsam, weil sie keine Füsse haben«; «Flugzeuge fliegen in der Luft, weil dort mehr Platz ist als auf der Strasse«; «Die Sonne in unserer Stadt ist schöner als in euerer»).

Es folgt dem abduktiven Prinzip, das Relationen herstellt, ohne den relevanten Gesamtzusammenhang zu beachten («Was ist das Geheimnis der österlichen Auferstehung?» - «Bunte Eier». [Die Relation wird über das Prädikat österlich hergestellt]; «Warum bist du so distanziert?» - «Weil meine Oma in Hamburg wohnt«; «Was ist das Geheimnis der Schöpfung?» - «Die Nudelsuppe». [Relation wird über schöpfen hergestellt: Nudelsuppe wird «geschöpft»]).

Damit in Zusammenhang stehen non sequitur-Assoziationen («Der Osterhase hat ganz viele Eier gebracht. Und die Oma hat ganz neue Zähne im Mund gehabt, damit sie in der Kirche schön singen konnte«; «Warum haben Fische Schuppen?» - Wo sollten sie denn sonst ihre Fahrräder unterstellen?»).

Schliesslich neigt das prälogische Denken zu Verabsolutierungen (Übertreibungen / Untertreibungen) («Hat es bei euch in den Ferien oft geregnet?» - «Nein, nur zweimal. Zuerst zwei Tage und dann drei Wochen»)

Sprache: Verwendung einfachster Begriffe, die möglichst anschaulich sind. Um vom diskursiven Sprechstil wegzukommen, werden bestimmte «Bremstechniken» verwendet, die das Einüben einer kindlichen Sprechweise fördern. (Mit Wasser im Mund sprechen, Streichholz zwischen die Zähne stecken, Zunge zum Mund rausstrecken, Brausepulver, Murmeln im Mund behalten).

Körpersprache: Um Mimik und Gestik zu reduzieren werden Anleihen beim «Minimalclown» (als Ebenbild des Kleinkindes!) gemacht: Der Minimalclown folgt dem Prinzip der Reduktion ganz konsequent. Sein Aktionsradius ist winzig, seine Schritte sind durch den geringen Abstand zueinander trippelnd und langsam. Seine Bewegungen laufen im Zeitlupentempo ab. Und wie beim kleinen Kind sind seine verbalen Äusserungen ganz rudimentär. Das Zentrum seiner nonverbalen Kommunikation ist der mimische Bereich. Dort spiegelt sich eben jene Lebendigkeit und Lebensfreude, die beim unfreiwilligen Clown zu einer «Maske der Scham» (Wurmser) erstarrt ist.

(1) Beispiel: Es ist syntaktisch und semantisch korrekt zu schreiben: Paris ist eine Großstadt. Aber es wäre inkorrekt zu schreiben: Paris ist zweisilbig, denn in diesem Fall müssen Anführungszeichen verwendet, also: "Paris" ist zweisilbig. Der Unterschied zwischen den beiden Sätzen besteht darin, daß sich das Wort "Paris" im ersten Satz auf ein Objekt (die Stadt) bezieht, im zweiten dagegen auf den Namen der Stadt und daher auf sich selbst. Die beiden Verwendungen des Wortes "Paris" gehören somit verschiedenen Sprachstufen an (der erste Satz ist in der Objektsprache, der zweite in der Metasprache) und die Anführungsstriche dienen als logische Typenmarkierungen.

(2) Dieses Kleinkind wird durch den "Minimalclown" versinnbildlicht.