René Schweizer...

baslerstab-Kolumne 6
22.12.2000

So schief ist Eck

Manchmal gleite ich in eine Leere. Wenn ich mich lange angestrengt habe, setzt mein Hirn plötzlich aus. In der warmen Jahreszeit gibt es dann nichts Erholsameres und Inspirierenderes als vor das schiefe Eck am Claraplatz zu sitzen und bei einem Bier die Welt anzustaunen. Was da vorbei schlendert und vorbei hastet, vorbei schleicht, lümmelt, latscht, ärschelt, trampelt, stolziert und quietscht (Tram!), lässt das Adrenalin wie nach einem Staudammbruch im Hochgebirge durch die Blutbahnen rauschen. Und an den grossen Publikumsmessen, wenn die teuren Herren mit ihren stöckelnden Damen von Norden her ins Bild treten, legt die Show noch einen Zacken zu. Dann ist ein Stuhl vor dem schiefen Eck ein Logenplatz im Welttheater.
Wenn Sommer und Herbst gegangen und der Winter gekommen ist, wird das schiefe Eck zur guten Stube. Die Weihnachtsdekoration verwandelt dann alles in ein Märchenland. Nach zwei oder drei Kaffi fertig weiss man: Es existiert halt doch, das Christkind. Während des Jahres mag ja ab und zu mal bei irgend einem mehläugigen Schlumpf der Platzhirschwahn ausbrechen und sich in einem wilden Gebrüll äussern, aber am Heiligen Abend herrscht Frieden im schiefen Eck. Wenn einer spürt, dass sein Nachbar nichts trinkt, weil er kein Geld hat, lädt er ihn vielleicht zu einem Einerli Kalterer ein (Fr.1.80). Und Rosa, die grosse Seele hinter dem Tresen, die bei der Verteilung des Charmes eine Extrakelle voll zugeteilt bekommen hat, lässt mit ihrem Lächeln alle spüren, dass sie willkommen sind, alle, nicht nur die Verlierer, sondern auch die sogenannten Gewinner, die vielleicht die wahren Verlierer sind.
Seit rund hundert Jahren gibt es diesen Ort. 365 Tage im Jahr. Hoffentlich ist das erst der Anfang.
René Schweizer, Lachforscher und Schauspieler.

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